Herbstspaziergang mit Martheli

Das schöne Wetter zog mich nach draussen. Und da ich keine Lust auf Menschenmenge und Lärm hatte, fuhr ich nicht Richtung Döttingen, wo heute der Winzerumzug stattfand, sondern Richtung Kaiserstuhl: Ich wollte dem Rhein entlang nach Eglisau spazieren.

 

Das Städtchen präsentierte sich einmal mehr postkartenmässig, und das erste Foto, mit dem Blick auf den Rhein, wäre in vor-digitalen Zeiten sicher ein schönes Kalenderblatt geworden.

 

Etwas weniger idyllisch ging es dann auf dem ersten Stück Weg durch den Wald zu: Von oben bewarfen mich die Bäume mit Eicheln, und auf dem Boden lagen so viele von den Dingern, dass es an einigen Stellen zu Kevin-Allein-zu-Hause-Szenen kam, mit der entsprechenden Tonspur … Vielleicht besser, dass da keine anderen Menschen in der Nähe waren!

Wobei:
Allein war ich auch heute nicht. Ab und zu traf ich natürlich auf andere SpaziergängerInnen.

 

Vor allem aber war, vom Moment an, wo ich die ersten Pfaffenhütchen gesehen hatte, Martheli an meiner Seite.

 

Martheli war das Quartiergrosi in unserer Strasse, im Dorf,  wo ich aufgewachsen bin. Eine alte «Jumpfere» mit strengem Dutt, Jupe und Schürze. Und ganz vielen Lachfältchen. Sie lebte im Haus auf der anderen Strassenseite, oben, in einer winzigen Wohnung, deren Highlight für uns Kinder die Kuckucksuhr war – und die Schale mit den Süssigkeiten. Unten im Haus lebte ihre Schwester, s Dysi – Frau Dysli – mit ihrem Mann. Ganz unten, wo später die Garage war, hatte der Vater der beiden seine Schuhmacherei. Ich weiss nicht, ob ich die Mutter je gekannt hatte, auch an den Vater mag ich mich nicht wirklich erinnern – gut  möglich, dass ich den nur von Fotos kenne. S Martheli hat dem Vater den Haushalt geführt, hat nach seinem Tode auswärts gearbeitet, wohl in der Pflege oder so, denn sie hatte immer wieder Besuch von einer Diakonissin.

 

Fräulein Äberhard hiess Martheli richtig,  Und das "Fräulein" trug sie wie einen Orden, auch (oder erst recht) als diese Anrede längst verpönt war. Sie war stolz darauf, ledig zu sein – und wäre doch aus unserer Sicht die perfekte Mutter gewesen.

Für uns Kinder hatte Martheli immer Zeit. Und auch wenn sie nicht viel Geld zur Verfügung hatte (rückblickend vermute ich, dass sie nur die tiefste AHV erhielt, da sie zwar immer gearbeitet, aber kaum je verdient hatte), erhielten wir kleine Geschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten. In meinem Fall waren das übrigens meist Geleefrüchte, weil meine Schwester Martheli verklickert hatte, dass ich die heiss liebe. Ich hasse die Glibber-Dinger!  Aber – und das wusste meine Schwester sehr wohl – ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als Martheli zu kränken. Und sie sorgte dann jeweils persönlich dafür, dass das Zeugs wegkam …

 

Martheli war sehr religiös. Die meisten Geschichten, die sie uns erzählte, stammten aus der Bibel oder der Sonntagsschule. Aber da sie spannend zu erzählen wusste und nicht eigentlich missionierte, genossen wir diese Märchenstunden dennoch. Daneben war Martheli aber auch eine kleine Kräuterhexe: Sie wusste genau, wo es die ersten Walderdbeeren gab, wilde Himbeeren und Brombeeren. Und im Herbst waren es Pfaffenhütchen, Hagebutten, Buchnüsschen und Eicheln , die wir von unseren Spaziergängen heimbrachten. Daraus bastelten wir Halsketten oder Tierchen – die Hagebutte kochte Martheli ein.

Ich habe keine Ahnung, wie oft wir das gemacht haben – ich erinnere mich nicht an bestimmte Ausflüge, nur so an einzelne Szenen. Einige mit meinen Geschwistern, mindestens einmal müssen auch die Lüthi-Buben dabei gewesen sein. Alles wahrscheinlich noch, bevor wir zur Schule gingen – danach verbrachten wir unsere Freizeit eigentlich fast völlig innerhalb der Familie bzw. mit der Vorbereitung auf Sekundarschule und Gymi.

Martheli und die Pfaffenhütli – in meinem Kopf gehört das zusammen. Ich sehe sie vor mir, wie sie mir beim Auffädeln hilft. Wie wir dazwischen geöffnete Buchnüsschenschalen schieben.  Uns zum Schluss die Ketten um den Hals legten. Chic sahen die aus! Auch wenn sie meistens nicht lange hielten …  Von ihr lernte ich, wieso die Pfaffenhütchen so heissen – und dass die zwar für uns giftig seien, für die Vögel aber eine Delikatesse. 

 

Zum Schluss  ihres langen Lebens haderte Martheli mit Gott – und dem Pfaffen, seinem Stellvertreter auf Erden. Sie war krank und müde, aber ihr Herz, das unendlich grosse Herz, war offenbar auch stark – und schlug weiter, immer weiter, auch als Martheli längst gerne zum lieben Gott gehen wollte, von dem sie ihr Leben lang Zeugnis gegeben hat. «Jede Halungg darf stärbe, nume mi het dr lieb Gott vergässe»  – das sind die letzten Worte von ihr, an die ich mich erinnere. 

Nun bin ich ja per Gott nicht per du und weiss nicht, was seine / ihre Gründe waren. Aber vergessen? Das kann ich mir nicht vorstellen:

 

So ein Martheli vergisst man nie!

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